Von Gitte Köllner
Warum Selbstreflexion die Zukunftsfähigkeit von Studierenden stärkt
Reflexion ist eine zentrale Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von Studierenden und Promovierenden. Neben Fach- und Methodenwissen braucht es Räume für kritisches Denken, Selbstverortung und die bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Zielen. Genau hier setzt das Teilprojekt „Skills for a Digital Future“ im Rahmen des DigiTaL-Projekts – Digital Transformation Lab for Teaching and Learning (gefördert durch die Stiftung Innovation in der Hochschullehre) an. Wir haben praxisnahe Ansätze entwickelt, wie Reflexion als didaktisches Element systematisch in Curricula verankert werden kann, um Lern- und Transferprozesse gezielt zu fördern.
Future Skills – mehr als ein Buzzword
In der hochschulischen Diskussion um Future Skills – also zukunftsorientierte, überfachliche Kompetenzen – herrscht Einigkeit: Diese Fähigkeiten sind in einer digitalisierten und dynamischen Welt unverzichtbar (vgl. Ehlers, 2020; vgl. Stifterverband, 2021).
Wir haben uns dabei auf drei Kompetenzfelder konzentriert (vgl. Ehlers, 2022, S. 17–19):
- Urteilsfähigkeit: kritisch-kreatives Denken, Bewerten, Entscheiden
- Digitalkompetenz: Potenziale und Grenzen digitaler Technologien verstehen
- Selbstkompetenz: Verantwortung für das eigene Lernen und Handeln übernehmen
Während Begriffe wie Urteilsfähigkeit und Selbstkompetenz klassische Bildungsziele sind, gewinnen sie in einer sich wandelnden (Arbeits-)Welt neue Relevanz – und werden im Kontext von Future Skills neu gerahmt. Reflexion nimmt darin eine Schlüsselrolle ein: Im Future-Skills-Framework des Stifterverbands gilt sie als Teil der Urteilsfähigkeit, im Modell von Ehlers als eigenständige Kompetenz und „umfasst die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion, also die Fähigkeit, sich selbst und andere zum Zweck der konstruktiven Weiterentwicklung hinterfragen zu können sowie zugrundeliegende Verhaltens-, Denk- und Wertesysteme zu erkennen und deren Konsequenzen für Handlungen und Entscheidungen holistisch einschätzen zu können“ (Ehlers, 2022, S. 18).
Reflexion als Fundament
Wir verstehen Reflexion – in Anlehnung an die Bildungswissenschaften – als zielgerichteten mentalen Prozess des Hinterfragens, Prüfens und Neubewertens (vgl. Aeppli & Lötscher, 2016, S. 84; vgl. Aufschnaiter et al., 2019, S. 148; vgl. Dewey, 1910, 1997, S. 6; vgl. Gläser-Zikuda et al., 2019, S. 517).
- Internale Reflexion: Selbstwahrnehmung, Werte, Motivation
- Externale Reflexion: Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen und inhaltlicher Bezüge
Unsere Erfahrung: Spontane mündliche Reflexionen bleiben oft oberflächlich. Schriftliche Reflexion hingegen regt tiefere kognitive Prozesse an (vgl. Flower & Hayes, 1981). Sie zwingt, Gedanken zu Ende zu denken – oder Ungewissheit explizit festzuhalten. Beides ist Teil einer zukunftsgerichteten Reflexionskompetenz.
Zwei Formate: Deep Dives & Reflection Nuggets
Um Reflexion in Lehrveranstaltungen nachhaltig zu verankern, haben wir zwei Formate entwickelt:
- Deep Dives – Blick nach innen: persönliche, nicht bewertete Selbstreflexion im geschützten Raum. Ziel ist die bewusste Auseinandersetzung mit individuellen Zielen, Erfahrungen und Lernprozessen.
- Reflection Nuggets – Blick nach außen: inhaltlich ausgerichtete Reflexionen, die Seminarinhalte mit individuellen Perspektiven verknüpfen. Sie fördern den Transfer von Wissen und fließen anteilig in die Prüfungsleistung ein.
Praxisbeispiel 1: Navigating the Future
Reflexion als roter Faden – Prozessbegleitende Verankerung im Seminar
Im Master-Komplementärstudium haben wir ein Reflexionsformat erprobt, das gezielt die Förderung von Future Skills ermöglicht. Anstelle einer einmaligen Abschlussreflexion wurden die Aufgaben über das gesamte Seminar hinweg kleinschrittig strukturiert integriert:
- Reflection Nuggets führten von der Antizipation eines Zukunftsszenarios über die Analyse der Auswirkungen von Digitalisierung bis hin zur Reflexion ethischer Fragen und relevanter Kompetenzen – Future Skills.
- Deep Dives ermöglichten eine Standortbestimmung („NOW“), einen Ausblick („LOOK AHEAD“) und eine Rückschau („LOOK BACK“).
So entstand ein begleitendes Reflexionsformat für das Seminar „Navigating the Future: Building Critical Skills for Tomorrow“, der kontinuierliche Auseinandersetzung statt bloßer Rückschau am Ende der Lehrveranstaltung ermöglichte.
Praxisbeispiel 2: Reflect & Envision
Die digitale, internationale Spring School 2025 („Feature Your Future: Envisioning Research Culture in 2050“) kombinierte die inhaltliche Auseinandersetzung mit Theorien und Methoden zu Futures Thinking mit dem Anwenden dieser durch das Reflexionsformat.
- Vorbereitung: Sechs Wochen vorab bearbeiteten die Teilnehmenden wöchentliche Reflection Nuggets und Deep Dives zur inhaltlichen Vorbereitung auf das Event.
- Während der Spring School: Drei „Reflection Spaces“ gaben Raum, Keynotes und Workshops kritisch zu verarbeiten und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.
- Abschluss: Ein kollektiver „Check-out“ bündelte individuelle Erkenntnisse und machte sichtbar, wie Zukunftsszenarien reflektiert und bewertet werden können.
Einblicke in die Reflection Nuggets und Deep Dives
Die Reflexionsaufgaben im Format „Reflect & Envision“ – der Begleitreflexion der Spring School – waren eng mit dem Programm verknüpft und strukturierten die Lernprozesse vor, während und nach dem Event.
- Deep Dive 1 – Check-in (Kick-off, 6 Wochen vor der Spring School): Persönliche Standortbestimmung: Wie bist du hier? Was erwartest du? Was möchtest du konkret lernen?
- Reflection Nugget 2 – Vorbereitung auf Workshop 3: Auseinandersetzung mit Design Thinking durch Video, Artikel und Praxisbericht. Anschließend Reflexion: Wie lässt sich die Methode nutzen, um die Zukunft von Research Culture zu antizipieren und Szenarien zu entwerfen?
- Deep Dive 3 – Check-out (Reflection Space 3, letzter Tag): Rückschau im Steckbrief-Format: zentrale Erkenntnisse und ein persönlicher „Song of the Future“, geteilt in der gemeinsamen Teams-Umgebung.
KI-Richtlinien
Um eine echte, selbstbezügliche Reflexion sicherzustellen, wurden klare Vorgaben zur Nutzung von KI-basierten Tools gemacht: erlaubt war der Einsatz für Korrektur, Übersetzung oder Strukturierung der Texte (z. B. Blogposts), nicht aber für die Generierung von Inhalten. Entscheidend war nicht sprachliche Perfektion, sondern die authentische Auseinandersetzung, das Begründen und Erklären sowie der individuelle Transfer.
Unsere Learnings
Die Evaluation der Reflexionsformate, u. a. qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018), brachte drei zentrale Erkenntnisse:
- Reflection is key.
Studierende schätzen die Gelegenheit, eigene Standpunkte und Zukunftsszenarien kritisch zu durchdenken. Reflexion stärkt Verantwortung und Gestaltungskompetenz. - Struktur schlägt Zufall.
Reflexion braucht didaktische Rahmung, Zeit und Feedback. Kontinuierliche, kleinschrittige Aufgaben sind wirksamer als einmalige Abschlussreflexionen. - Future Skills gehören ins Curriculum.
Urteilskraft, Selbstkompetenz und Reflexionsfähigkeit dürfen keine Nebenthemen bleiben. Sie müssen curricular verankert und mit Lernzielen sowie Prüfungsformaten verbunden werden.
Literaturverzeichnis
Aeppli, J. & Lötscher, H. (2016). EDAMA – Ein Rahmenmodell für Reflexion. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 34(1), 78–97.
Aufschnaiter, C. von, Fraij, A. & Kost, D. (2019). Reflexion und Reflexivität in der Lehrerbildung. Herausforderungen Lehrer_innenbildung – Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion(2), 144–159. https://doi.org/10.4119/HLZ-2439
Dewey, J. (1910, 1997). How We Think. Dover Publications, Inc.
Ehlers, U.‑D. (2020). Future Skills : Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft. Springer Nature.
Ehlers, U.‑D. (2022). Future Skills im Vergleich: Zur Konstruktion eines allgemeinen Rahmenmodells für Zukunftskompetenzen in der akademischen Bildung.
Flower, L. & Hayes, J. R. (1981). A Cognitive Process Theory of Writing. College Composition and Communication, 32(4), 365. https://doi.org/10.2307/356600
Gläser-Zikuda, M., Hagenauer, G., Hofmann, F. & Wolf, N. (2019). Reflexion in Lehr-Lernprozessen. In M. Harring, C. Rohlfs & M. Gläser-Zikuda (Hrsg.), UTB Schulpädagogik: Bd. 8698. Handbuch Schulpädagogik (S. 516–528). Waxmann.
Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung.
Stifterverband (2021). Future Skills Framework. https://future-skills.net/framework