Digital Transformation Lab for Teaching and Learning

Teilprojekt 1:

Virtuelle Realitäten zur Kompetenz-entwicklung und Reflexion

Ein Projekt unter der Leitung von  Prof. Dr. P. Kuhl 
(Fak. Bildung) und Prof. Dr. D. Loschelder (Fak. Wirtschaft)

„Wissen bedeutet noch nicht Können.“ Studierende mögen theoretisch viel über die Tätigkeit als Lehrkraft, über Beratungsgespräche, über Assessment Center oder über das Verhandeln wissen, jedoch gleichzeitig über wenig Fähigkeiten und Fertigkeiten in diesen Bereichen verfügen. Ihr Wissen geht nicht unweigerlich mit der Kompetenz einher, Situationen angemessen zu analysieren, Handlungsalternativen überlegt auszuwählen, eine passende Handlungsentscheidung zu treffen und diese abschließend zu bewerten und zu reflektieren. Gerade diese systematische Herangehensweise ist jedoch kennzeichnend für ein professionelles und
kompetentes Handeln.

Um derartig effektiv zu handeln, werden umfangreiche und gut vernetzte Strukturen sogenannten konzeptuellen Wissens benötigt. Konzeptuelles Wissen integriert deklaratives und prozedurales Wissen. Ersteres beschreibt das Wissen über Fakten, Inhalte oder Objekte (knowing what), zweiteres die Fähigkeit Handlungsabfolgen zielgerichtet und effektiv auszuführen (knowing how). Unweigerlich wird klar: das prozedurale Wissen greift auf vorhandenes deklaratives Wissen zurück. Zum Aufbau einer vernetzten Wissensbasis sind ‚Wissen‘ und ‚Können‘ daher nicht kategorial voneinander zu trennen. Vielmehr sind sie ineinander übergehende Lernziele, die im Rahmen der Hochschullehre didaktisch-methodisch effektiv adressiert werden sollten. Lehrveranstaltungen sollten konkrete Handlungsmöglichkeiten schaffen, die so konstruiert sind, dass neben der reinen Situationsbewältigung auch noch elaborierte kognitive Prozesse stattfinden können.

Dies ist nur eine der Herausforderungen, die sich unter der Forderung nach einer stärkeren ‚Theorie-Praxis-Verzahnung‘ in den vergangenen Jahren als argumentativer Dauerbrenner in der Hochschullandschaft etabliert hat. Nicht umsonst ist der aktuelle Diskurs um die Zukunft der Hochschulen im Allgemeinen durch die Forderung nach einem handlungsorientierteren Studium sowie im Speziellen nach dem konkreten Einsatz von bspw. Fallarbeit, Simulationen, Rollenspielen, Microteaching oder Videografie in der Lehre geprägt.

Dass sich ein Großteil der Lehrveranstaltungen trotzdem nahezu ausschließlich auf den Erwerb
deklarativen Wissens konzentriert und eine produktive Verknüpfung zur praktischen Anwendungssituation meist ausbleibt, ist empirisch als auch anekdotisch vielzählig belegt. Diese kritische Bestandsaufnahme geht an der Zielgruppe der Lehre nicht spurlos vorbei. Die Studierenden betonen die aus ihrer Sicht fehlende Relevanz der Studieninhalte und Theorien für die spätere Berufstätigkeit. Diese Relevanzproblematik wird von vielen Studierenden als zentrale Ursache für eine hohe wahrgenommene Studienbelastung gesehen. Gleichzeitig scheint sich der Verzicht auf die kritische Reflexion der Studieninhalte und Zusammenhänge aus Sicht der Studierenden als wirksame Strategie etabliert zu haben, um diesem belastungsinduzierenden Faktor entgegenzuwirken. Es kommt zur Bildung von ‚trägem Wissen‘, das zwar abstrakt verstanden wurde, jedoch nicht konstruktiv zur professionellen und kompetenten Problemlösung eingesetzt werden kann.

Mittlerweile bietet die fortschreitende Digitalisierung der Hochschullehre verschiedene innovative Lehr- und Lernmethoden, die diese Wissens-Kompetenz-Lücken zu verringern vermögen. Zur Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie der damit einhergehenden Gewinnung erster Praxiserfahrungen werden (digitale) Alternativen ein immer wichtigeres Lernelement. Maßgeblicher Treiber dieser Entwicklung ist die Adaption von neuartigen technologischen Entwicklungen und Geräten für Lern- und Bildungszwecke. Mit ihnen eröffnen sich neue didaktisch-methodische Zugänge und damit Chancen für die Hochschullehre.

Eine dieser vielversprechenden Zukunftstechnologien ist Virtual Reality (VR). VR wird definiert als Medium, das realistische oder unrealistische Situationen mithilfe verschiedenster Begleittechnologien in synthetischen, interaktiven, dreidimensionalen, räumlichen Umgebungen bereitstellt. Auch wenn VR bereits seit den 1990er Jahren als Technologie nutzbar ist, ist sie aufgrund der rasanten technischen Entwicklung in den vergangenen fünf Jahren hinsichtlich Visualisierung und Interaktion bedeutend attraktiver für die Nutzung in Lehr-Lern-Arrangements geworden. Dabei ist es vor allem die Weiterentwicklung der sogenannten ‚head-mounted displays‘ (HMDs), wie beispielsweise der Valve Index oder Oculus Quest 2, die VR mittlerweile gesellschaftsfähig gemacht und in die Haushalte vieler Menschen gebracht hat. VR sorgt durch seinen visuellen, auditiven und kinästhetischen Zugang dafür, dass die Informationen der realen Welt durch die der virtuellen Welt ersetzt werden. Die Nutzer*innen erleben ein Gefühl von Immersion, d.h. ein entsprechend hohes Niveau von Sinneswahrnehmung, das die Wahrnehmung der echten Realität so weit zurückdrängt, dass die physische Umgebung und Objekte der echten Welt nicht mehr wahrgenommen werden.

Im Forschungskontext hat der Diskurs um die Bildungspotenziale von VR in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen. Diverse Studien oder Forschungsprojekte bescheinigen der Technologie mittlerweile einen hohen pädagogischen Nutzen. Dies geht
soweit, dass VR bereits von einigen Bildungsakteuren als ‚die‘ Lernhilfe des 21. Jahrhunderts auserkoren wurde. So kann sich VR beispielsweise zur Steigerung von Selbstwirksamkeit, als Hilfsmittel zur Reflexion, zur dreidimensionalen Visualisierung von Lerngegenständen oder eben zum Erwerb einer vernetzten Wissensbasis als fördernd erweisen und einen Mehrwert gegenüber den etablierten Zugängen bieten.

DasTeilprojekt greift die zunehmende Anwendung von Virtual Reality im Hochschulkontext auf und verfolgt die nachhaltige Implementation und Weiterentwicklung der Technologie für die gesamte Universität. Den Studierenden der Leuphana wird es zukünftig mittels VR ermöglicht, in einem geschützten Rahmen in kontrollierte, computerprogrammierte, interaktive Umwelten einzutauchen. Hier können sie ihr deklaratives Wissen um Elemente prozeduralen Wissens realitätsnah erweitern und theoriegeleitet praktische Kompetenzen erwerben. Außerdem bringt die Technologie ein ausgeprägtes Potenzial für intensive Reflexionen mit Kommiliton*innen, Dozierenden und Expert*innen mit sich.

Als interdisziplinäres Projekt werden hinsichtlich der Anwendung von VR zwei thematische Zugänge verfolgt. Studierende sollen in (1) ihren angewandten Kompetenzen und Fertigkeiten als lehrende und beratende Personen im Schulkontext (vgl. Huang et al., 2020) und (2) ihren Verhandlungsfähigkeiten als Bewerber*innen in Assessment Centers (vgl. Loschelder et al., 2016a, 2016b) trainiert werden. Das Projekt verfolgt außerdem zwei technologische Entwicklungsschritte. Im ersten Schritt wird die VR-Technologie in Kombination mit 3D360°-Aufnahmen erprobt. Die zweite Entwicklungsstufe sieht die Entwicklung von realitätsnahen und interaktiven VR-Trainingsmodulen mithilfe der Unreal Engine oder Unity3D vor. Als HMD kommt in beiden Entwicklungsstufen die Oculus Quest 2 zum
Einsatz. Durch die Immersion in die VR-Umgebung und dem damit einhergehenden erhöhten Realismus der erlebten Situation, z. B. im
Vergleich zu Rollenspielen mit Kommiliton*innen oder Fallstudien in schriftlicher Form, können die Studierenden eigene Erfahrungen in
praxisnahen Anwendungsfällen sammeln und werden somit besser auf reale Zukunftsszenarien, z. B. den Vorbereitungsdienst oder die erste Gehaltsverhandlung, vorbereitet.

Das langfristige Ziel ist es, Leuphana-Studierende (1) aus dem Lehramt (> 1,100) durch aufeinander aufbauende, realitätsnahe VR-Trainingsmodule in der eigenen Lehr- und Beratungstätigkeit zu trainieren sowie (2) universitätsweit alle interessierten Leuphana Absolvent*innen (insbesondere in den Disziplinen Management, Psychologie, VWL, Rechtswissenschaften, etc.) in den Verhandlungsfähigkeiten zu schulen und auf Gehaltsverhandlungen und Assessment-Center vorzubereiten. Kernbestandteil der jeweiligen VR-Trainingsmodule sind neben der aktiven Einübung von Verhalten im virtuellen Raum eine ausgeprägte Reflexionsphase, inklusive (Peer)Feedback und Entwicklungsimpulsen.

Das Teilprojekt ist entlang von fünf aufeinanderfolgenden Phasen strukturiert:

  1. Zunächst werden herausfordernde Situationen aus dem Lehralltag (Classroom Management und Beratungsgespräche) sowie Erfolgsfaktoren in Gehaltsverhandlungen identifiziert und nach ihrer Schwierigkeit eingestuft.
  2. Aufbauend auf diesen Ergebnissen werden realitätsnahe Trainingssituationen geskriptet und mithilfe einer 3D360°-Kamera und mit einem kooperierenden Praxispartner gefilmt bzw. es werden virtuelle Trainingsmodule inklusive Interaktionen programmiert
  3. Die Seminarkonzepte inklusive Reflexionselemente und Peer-Feedback-Formate werden didaktisch entwickelt und digital implementiert.
  4. Die VR-Trainingsmodule werden mit jeweils ca. 15 Studierenden aus beiden Disziplinen pilotiert, erprobt, evaluiert und überarbeitet.
  5. Es erfolgt eine Evaluation mit ca. 100 Studierenden und ein Vergleich von Lehr- und Beratungs- bzw. Verhandlungskompetenzen der VR-Teilnehmer*innen mit (a) klassischer Kontrollgruppe, die das reguläre, analoge Leuphana Studium durchläuft, sowie (b) einer Vergleichsgruppe, die per Video trainiert wird (vgl. Teilprojekt Prof. Kleinknecht).

Nach der Evaluationsphase und Wirksamkeitsüberprüfung sollen beide Trainingselemente für alle Lehramtsstudierenden (Training 1) bzw. für alle Absolvent*innen an der Leuphana (Training 2) zur Verfügung gestellt werden und in die jeweiligen Curricula mitaufgenommen werden. Ziel ist, eine überdurchschnittlich hohe Qualität in Lehr- und Verhandlungskompetenzen der VR-Trainingsabsolvent*innen zu erreichen, und die Möglichkeiten zur digitalbasierten Kompetenzvermittlung an der Leuphana interdisziplinär und fakultätsübergreifend auszuweiten und zu stärken.

 

 

Weiterführende Literatur

Cramer, C. (2014). Theorie und Praxis in der Lehrerbildung. Bestimmung des Verhältnisses durch Synthese von theoretischen Zugängen, empirischen Befunden und Realisierungsformen. Die Deutsche Schule, 106(4), 344–357.

Huang, Y., Richter, E., Kleickmann, T. & Richter, D. (im Druck). Virtual Reality in Teacher Education From 2010 to 2020: A Review of Program Implementation, Intended Outcomes, and Effectiveness Measures. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft.

Kunina-Habenicht, O. (2019). Wissen ist Macht: Ein Plädoyer für ein wissenschaftliches Lehramtsstudium. In T. Wenzl & C. Scheid (Hrsg.), Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung? (S. 109–126). Springer Fachmedien Wiesbaden.

Kuhlee, D. (2012). Brauchen wir eine Workload-Diskussion? Das Hochschulwesen, 60(4), 79–87.

Kuhlee, D. (2017).
The impact of the Bologna reform on teacher education in Germany: an
empirical case study on policy borrowing in education. Research in
Comparative and International Education, 12(3), 299–317.

Kunter, M. (2011). Theorie meets Praxis in der Lehrerbildung. Erziehungswissenschaft, 22(43), 107–112.

Loschelder, D. D., et al. (2016a). The too-much-precision effect: When and why precise anchors backfire with experts. Psychological Science, 27, 1573-1587.

Loschelder, D. D., et al. (2016b). The information-anchoring model of first offers: When moving first helps versus hurts negotiators. Journal of Applied Psychology, 101, 995-1012.

Radianti, J., Majchrzak, T., Fromm, J. & Wohlgenannt, I. (2020). A systematic review of immersive virtual reality applications for higher education: Design elements, lessons learned, and research agenda. Computers & Education, 147.

Beiträge zum Teilprojekt 1

Developing Interpersonal Skills in Virtual Reality

In the last two years, we developed two VR applications for teaching interpersonal skills in higher education. This blog articles dives deeper into our goals, approach, and learnings, and showcases our final applications for students to succeed in their job interviews or having successful teacher-parent interactions in a school setting.

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Projektmitwirkende

11

Prof. Dr. Poldi Kuhl

Prof. Dr. David Loschelder

Hannes Petrowsky

Simon Schweigler

Ehemalige Projektmitwirkende

1

Yannik Adam